Er war ein Idealist, solange er nicht gewusst hat, dass Geld über allem steht und den wahren Wert des Menschen machte. Insbesondere dann, wenn man gezwungen war, sich unter seinem Wert zu verkaufen. Davon abgesehen, dass die Freundschaftslinien engstens an dieser Grenze gezogen wurden. Unheimlich. In einer Bevölkerung, die gegen die Jugend war und sich dabei noch wunderte, dass diese deswegen schleichend weniger wurde. Als er sich dessen bewusst geworden war, hat er angefangen, zu sinnieren und ein wahrer Kulturpessimist zu werden. Wenn Gott wirklich tot ist, dann ist es die Kultur schon lange. In dieser eigenartigen Zeit des Sinnierens, in der er sich die Welt als von fremder Hand gesteuertes Computerspiel vorstellte, in der wir alle Protagonisten sind, hatte er das Bedürfnis, sich Heinz Rühmann als Briefträger Müller anzusehen. Diese alten Komödien, Zerrbilder einer heilen Welt, die ihre Brücken schlug über den abertiefen Schlund menschenverzehrenden Hasses. Die langbärtige Slapstick-Antipathie zwischen Postler und Hund fand er abgeschmackt und nicht im entferntesten amüsant. Aber er schaute ja auch nicht richtig hin. Es überkam ihn diese erdrückende Leere, die seine Sinnfrage begleitete. Er wusste nicht mehr, wer er war. Er wusste nicht mehr, was er war. Er wusste nicht mehr, warum er war. Es war an dem Tag, an dem man das Gleichnis von der Orchidee auf unscheinbaren, anonymen Zetteln unter die Leute brachte: „Irgendwo blühte einmal eine Orchidee mit diesem Namen. Sie wurde gehegt und gepflegt und sie gedieh. Sie gedieh immer weiter, bis sie, weniger gepflegt, im Glauben sie würde wie eine Kaiserkrone in der Vitrine ewig bleiben, dennoch weiter gedieh, bis man ihr noch weniger gab, sie noch ein bisschen vor sich hingedieh, bis man endgültig auf sie vergaß, im Glauben, sie würde ewig so prächtig weiterblühen. Welch ein Irrglaube. Und bald war auch ihr Duft vergessen.“ Es roch verdammt stark nach den Kulturpessimisten, die, wie ganz früher die Zeugen Jehovas, von Tür zu Tür stiegen und ihre Botschaft verkündeten: „Die Kultur ist tot. Sie ist tot. Mucksmäuschentot. Wahrscheinlich begraben unter einem der vielen Bäume, wo die Streuner gerne hinüberpinkeln. Dort, wo keine Tränen fließen und keine Herzen brechen ob ihres Abhandengekommenseins. Dort wo der gänzlich entmusischste Mensch den letzten Rest seines menschlichen Geistes von dem Atommüll verstrahlen lässt, bevor er vernunftlos zu dem mutiert, wonach er sich so lange gesehnt und gefürchtet: zur selbstfabrizierten, perfekten, herzlosen Maschine. Die Liebe ist tot. Es gibt sie nicht. Als hätte es sie nie gegeben. Geschlechter gibt es auch keine mehr. Darf es nicht. Das Menschengeschlecht ist politisch nicht korrekt. Schon gar nicht in der Sprache. Und die ist weiblich und wird noch unser aller Ende sein. So wie der Krieg, der männlich ist und uns alle auslöschen wird bis in alle Ewigkeit. Nun werden wir erinnerungslos nirgendwo begraben liegen im Schatten unserer Nichtigkeit.“ Es war an dem Tag, an dem die Leute abstimmen sollten, ob sie gezwungen werden wollten, ihre Gewehre fürs Vaterland zu putzen. Es war an dem Tag, an dem ich in der Spielwarenabteilung des Kaufhauses das unterschwellig propagierende „You’re the army now“ vernahm, das aus irgendwelchen Boxen schallte. Es war ihr wohl jedes Mittel recht, dieser großen Menschenmühle, in der Gewissen und Umsicht wie alte Knochen zerknirschten. Vorbei an den Degen, Schwertern, Lichtsäbeln, Stoppelgewehren, Knallfroschrevolvern – kurzum: am Faschingsstand – war ich auf der Suche nach hervorragenden Zutaten für mein Chili. Ich weiß nicht, ob ich zu denen gehörte, die man gemeinhin als Schnäppchenjäger bezeichnete. Die Umstände nötigten allerdings auf die Preise zu schauen, auch wenn man dabei in die ignorierende Gefahr läuft auf Genmanipuliertes oder Eierschwammerln aus der Nähe von Tschernobyl zu ergattern. Heimwärts zog ich die ersten Spuren durch den frisch gefallenen Flaumenschnee. Was gab es Schöneres als auf Erden die Wolke Sieben zu spüren. Es war an dem Tag, an dem er es verdammte, das Leben nicht zurückspulen zu können, um Fehler zu vermeiden und dafür andere zu machen. Es war an dem Tag, an dem er sich besonders hohl, unwirklich und so überflüssig fühlte, dass er die Lust bekam, die Schlinge zu nehmen und… Ich schnitt gerade Zwiebel in das Faschierte, als ich den Plumps hörte. Ich wollte keine Ahnung haben, auch keine Befürchtung und rannte hinüber ins Badezimmer.Er lag da, ohne Bewusstsein, mit der gerissenen Schlinge um den Hals.
„Es war nichts“, sagte er mit dem verklärten Blick, den er immer hatte, wenn er Chopin hörte oder Chopin spielte. Und er erzählte mir, wie er aus einer tiefen, traumlosen Schwärze heraus wieder die Augen aufmachte und die Umwelt so fern war. Vor allem wünschte er sich das in seiner unglaublichen Pechzeit. Von Kramp geschüttelt, war er von mir weg auf die unglücklichste Seite gestürzt und hat seine neue Brille zerbrochen. Erschrocken war er und untröstlich. Er drückte sein Gesicht an meinen nackten Bauch und er fing bitterlich an zu weinen. Immer wieder das „Warum ich?“ auf den zitternden Lippen. Er schluchzte immer leiser, ich hielt seinen Kopf und streichelte durch sein dickes, dunkles Haar. Zweimal kam ihm „Ich bin nichts, Ich bin nichts…“, dann war er ruhig und ich hielt ihn. Ich erinnerte mich an die Wunden auf seinem Rücken: Arge, hässliche, rote und violette Striemen, die vom unglücklichen Sturz herrührten. Wie eine Puppe musste er gefallen sein, auf die scharfen Kanten des alten Heizkörpers. „Hast du Schmerzen?“, habe ich ihn gefragt. „Nein“, hat er gesagt.
Doch andere nahm er immer wichtiger als sich selbst. So zum Beispiel mich. Es war zu der Zeit, als die Leute anfingen, dem Ausländer die Schuld für alles in die Schuhe zu schieben. Ich kann mich noch an einen geschmacklosen Werbespot erinnern, in dem ein kleiner Junge verzweifelt seine Zahnpasta sucht. Seine quäkende Stimme nervte ungemein: „Mama, Mama! Wo ist denn meine Anti-Kariesteufel??!!“ „Läut’ doch mal bei Mustafa! Der klaut doch alles, was nicht niet- und nagelfest ist!“ Er liegt mir immer noch im Amgen und lässt in mir eine Übelkeit hochkommen. Wenn ich daran denke, wie er, gnadenlos abgekupfert, auf den Plakaten auftauchte. Allein, der Mustafa war nicht mehr klein und er wurde von den Werbenden mit einer Steinschleuder davongejagt. Blankes Entsetzen in seinem Gesicht. Der Schütze zielte konzentriert, Siegesgewissheit blitzte in seinen Augen, um für ein Frankfurter mit Senf und ein gesäubertes Grätzel Gutes getan zu haben. Welch ein jämmerlicher Triumph. Ich streichelte ihm über die Wunden und wollte sie ihm fortküssen. Um ihn nicht aufzuwecken ließ ich es bleiben und ließ meine Hand über seinen Rücken gleiten. Ich spürte seinen Atem. Er kam zögerlich und verlor sich in der dunklen Stille des kleinen Zimmers. Plötzlich erkannte ich, was es hieß als Individuum einsam zu sein. Ich schickte meinen leisen Seufzer seinem Atem hinterher. Obwohl ich nicht dachte, dass ich in dieser Nacht schlafen können würde, nicht ich kurz darauf an seiner Seite ein. Traumlos wurde ich munter, als das Licht mein Gesicht berührte.
Matthias kokettierte mit der Aphrodite, die dem sonnenbeschienenen Brunnen entstieg und eine Zierde des gastlichen Innenhofes war. Ihre Brüste waren grau und fest, ihr Blick starr, ihre Haare lang und alt. Ich spürte, wie mir schwindlig wurde. „Das ist der Kreislauf“, sagte er, als würde er es sehen. Ich funktioniere nicht gut bei dieser Glut. Ich nahm einen tiefen Schluck aus dem Glas und suchte seine Augen. Durch das Bild des verwaisten Bettes hindurch. Ich konnte es nicht vergessen.
Auf einmal war er fort gewesen. Nur das Leintuch war an meiner Seite geblieben. Auf ihm sein blasses Blut und sein feuchter Schweiß. Er war nur mehr Erinnerung. „Ich musste… du weißt schon…“ Ich schüttelte ehrlich den Kopf. Sein Dackelblick kämpfte sich durch sein stoppeliges, bleiches, aufgeschwemmtes Gesicht, das er hatte, seit er von mir weg war – mitten in mein Herz hinein und kam über mich wie eine warme Winterdecke. Seine Klavierfinger spielten ihre ganze Zärtlichkeit aus. Sie zeugten von seinem vergeudeten Talent. „Warum hast du mich alleine gelassen?“, insistierte ich.
Er schwieg vor sich hin und schaute durch mich hindurch. Ich schwieg zurück.
Aufkeimendes Gelächter umgab uns und das war so ziemlich der falsche Soundtrack. Grotes drang es in unser beider Bedrücktheit ein. Während ich noch an das Leintuch dachte, das schmutzige Stück Stoff, das mir nach dem Aufwachen nichts als Leere zurückließ, die nach Momenten zur Hoffnung wurde, die bald keine mehr war, bekamen seine flussfarbenen Augen plötzlich ihr vibrierendes Leben zurück und trafen mich völlig ungedeckt. Mir stockte der Atem und die Gänsehaut kroch über meine Schenkel nach oben. Dieser Blick bebte förmlich und sagte, flehte, verlangte mehr als tausend Worte. „Ich musste dich doch befreien.“ Ich verstand nicht. „Von mir selbst“, sagte er belanglos. „Noch etwas mehr von dem Liptauer?“ Wie konnte er das fragen? Aber meine Tränen waren noch nicht geronnen und er tunkte die letzten Reste des rosenpaprikaroten letzten Etwas aus dem kleinen Glastiegel. Ich setzte meine Sonnenbrille auf, die ich aus alter Gewohnheit in meinen Haaren trug. Ich weiß nicht woher das kam. Meine Mutter hat es auch so gemacht. Als ich es aber das erste Mal bei meiner Tante sah, war ich so erschrocken, da ich zunächst glaubte, sie hätte auch zwei Augen über der Stirn. Bis hinter das Geheimnis der doch nicht vieräugigen Tante kam, wollte ich von Sonnenbrillen und dergleichen gar nichts wissen und machte um sie einen großen Bogen. Sie war Meteorologin und arbeitete beim Fernsehen. Sie war eine von denen, die Sonnenschein breit grinsend und Regen mit Schlechtwettermiene prophezeiten. Als ich ganz klein war, war es noch ein Wetterfrosch, der in die Sonne verliebt war und ihr deshalb auf einer Leiter nachstieg, sich aber vor dem Regen flüchtend in die unteren Gefilde seines Gurkenglases, in dem er wohnte, verkroch. Als gäbe es nicht die Freudentränen, mit denen uns ein lauter Sommerplatscher, wie ihn meine Tante gerne bezeichnete, benetzt. Ich wollte ihm sagen: „Sei kein Frosch“, so wie er dasaß in sich selbst versunken. Er war bei einem Arzt gewesen, den er „Freud-Verschnitt“ nannte.
Der Mann mit den runden Augengläsern und dem gütigen Großvaterbart öffnete ihm. Matthias hatte ein Gefühl zwischen mulmig und leer. Zögernd folgte er der auffordernden Geste und betrat das Zimmer. Er war in einer anderen Welt. Eine Zeitreise hatte er sich schon immer gewünscht. Nie nach vor, stets zurück. Das Altbauparkett knarzte mit jedem noch so leisen Schritt, den er tat. Der Alte schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Nehmen’s ruhig Platz“ und er deutete Matthias, einen der drei Biedermeiersessel zu nehmen, die vor einem wuchtigen, fein geschnitzten Dunkelholzschreibtisch standen. Das Licht kam von einem majestätischen, mit Bienenwachskerzen bestickten Leuchter. Die schweren, cremefarbenen Samtvorhänge waren wie schwere Lider vor den hohen, in den Bassenahof führenden Fenstern geschlossen. „Na, wollen wir mal“, sagte der Alte, nachdem sich Matthias diplomatisch für die goldene Mitte entschieden hatte. Er spitzte seinen Bleistift, beäugte Matthias und kritzelte etwas auf einen Zettel, beäugte ihn wieder. Mitleidig. „Na, dann wollen wir mal“, wiederholte er und lotste ihn durch eine Allee von orientalischen Gebilden und nach mildem Zimt riechenden afrikanischen Masken hin zu einem grünbespannten Kanapee. Er legte ihn nieder. „Entspannen Sie sich, schließen sie die Augen. Und sagen Sie mir, was Sie sehen.“ Matthias mochte die Dunkelheit nicht so gerne. Ihr Doppelgesicht machte ihm Unbehagen. Doch tauchte er in sie ein. Er war niemand, der bedingungslos Widerstand leistete und jemand, der die Überraschungen der Traumwelt liebte. Von irgendwoher tönte Musik. Wie aus einer Narkose kam Matthias wieder zu sich und alles schwamm vor seinen Augen. Inmitten des wogenden Pastells ließ der Alte wieder die Güte um seine Mundwinkel kommen und diagnostizierte: „Da ist etwas in Ihnen drinnen, das krank ist.“
„Haben Sie noch einen Wunsch?“ Der kleine, schlaksige Wirt mit den Igelhaaren war an unseren Tisch gesprungen. „Wir haben ganz frische Hendlhaxerl. Oder darf’s noch ein hausg’machter Liptauer sein?“ Und als er unser Zögern bemerkte, setzte er hinzu: „Wir machen den mit Biozwieberln.“ Ich wollte nichts und er wollte zahlen. „Ich schick’ gleich das Fräulein“, sagte der Wirt, sichtlich enttäuscht darüber, dass wir auf sein Sahnehäubchen nicht angesprungen waren. Kaum war er davon, machte mir Matthias ein Kompliment: „Du siehst sehr schön aus.“ Den Tränen nahe bedankte ich mich mit einem sanften Lächeln. „Warum bist du fort?“, fragte ich. Er lehnte sich zu mir herüber: „Ich wäre dir nur eine Last gewesen.“ Aus den oberen Fenstern des Hofes hörte man jemanden Klavier üben. Er wurde hellhörig. „Die Pathétique. In den schnellen Passagen noch etwas holprig, aber alles in allem sehr schön.“ Es kam zu uns herunter wie ein lauer Sommerplatscher. Unter der erschütternden Ehrlichkeit des Gefühls im Klang und im Spiel, gab es für das Wasser kein Halten mehr. Was ist die Sonnenbrille für ein Segen, dass er nicht meine Tränen schauen musste. „Wohin gehst du?“, lenkte ich davon ab. „In die weite Welt hinein“, kam es von ihm. Ach, wie ich ihn verstand. Und wie ich ihn auch wieder nicht verstand. Einen Weg zu gehen, der einem vor den Füßen immer aufs Neue verschüttet, eingerissen, aufgebrochen wurde, muss ebenso die Hölle sein wie die Fruchtbarkeit ständig zubetoniert oder vom frischen Asphaltduft übertüncht vorzufinden. Da können auch Don Quijotes einmal schwach werden.
Der Arzt setzte ihn auf und leuchtete ihm in die Augen. Matthias ließe es mit sich geschehen, wie betäubt von dem eigenartigen Duft der buntbemalten Mahagonifratzen. „Ja, mein Freund. Da haben wir einige Schatten, wo sie nicht hingehören. Und er trug ihn mit einem Rotstift in die Rubrik der besonders eigenartigen Fälle ein. „Haben Sie jemanden, mit dem ich sprechen kann?“ „So ernst?“, fragte er. Der Alte wiegte den Kopf. „Das weiß ich noch nicht so genau“, log er. In den lange andauernden Schweigemoment hinein räusperte Matthias seine Verunsicherung hinunter, was ihm nicht ganz gelang. „Wie lange noch?“, klang es wie hohl aus ihm. Wieder wiegte der Gefragte seinen Kopf: „Ein halbes Jahr. Höchstens.“
Meine Tasche fing gerade an zu läuten, als ich meine Bücher holte. Ich muss wohl ein vor Scham glühendes Gesicht gehabt haben, als sich der Bibliothekar betont höflich von mir verabschiedete. Ich eilte ins Freie, weil das Quengeln meines Mobiltefelons kein erlösendes Ende nehmen wollte. Vorzeiten hatten wir uns noch darüber lustig gemacht, dass es asiatischer Brauch wurde, wie mit Ohrenweh sich den Kopf zu halten und Selbstgespräche führend durch die Straßen zu hasten. Nun waren wir selber mobil. Ich hob ab. „Hallo?“ Eine süßliche Männerstimme. Es war ein Psychiater. Es ging um Matthias, er sei sehr krank und hätte einen Überschuss an Phantasie, Kreativität und Sensibilität bei ihm festgestellt. Genüsslich formulierte er im Altaristokratenakzent: „Er leidet an Morbus Freigeist.“ Fortgeschrittenes Stadium, unheilbar. „Er wird damit keine Zukunft haben.“
Ich an seiner Stelle würde es hier auch nicht mehr aushalten. Aber wie sollte ich es ohne ihn? „Du bist stark“, sagte er. Wenn er sich da nicht täuschte. „Hörst du das?“, er freute sich sichtlich. „Die Passage ist jetzt fast fehlerfrei.“ „Das hat ein tauber Mensch komponiert?“ „Es kommt von da“ und er fasste sich an die Stelle, wo er sein zu gutes und zu malträtiertes Herz vermutete. Spüren. Tiefstes Spüren. „Ich bin sehr traurig“, sprach ich aus, was in mir schon so lange drinnen war und einmal ausgesprochen hörte es sich so banal an. In diesem Moment wünschte ich mir ein Zurückspulen. Nur um diesen Augenblick unserer ersten Begegnung wieder zu haben.
In seinen Armen, in ihm Ich zu sein. „Wirst du an mich denken?“ Ich bemühte mich, ihn meine Tränen nicht hören zu lassen. „Ich bin krank“, sagte er, als würde er es tatsächlich glauben. „Aber“ – und diese Wärme, die es in mir machte, die werde ich nie vergessen – „wo auch immer ich zu finden sein werde, an dich denken werde ich immer.“ „Wer einmal da drinnen war“, und er griff sich wieder an die linke Brustseite, „den vergesse ich nie.“
Auf einmal kam ein kleines Mädchen an unseren Tisch gelaufen, ein fliederkariertes Kleidchen an und einer ebensofärbigen Masche in den blonden Löckchen. Nur der Hund neben der Mutter schien zu bemerken, dass die Kleine ausbüchste. Allerdings beließ er es lediglich bei einem eher unentschlossenen Laut der Unzufriedenheit, bevor er sich wieder faul unter dem Tisch verkroch und so tat als hätte er nichts gesehen.
Schnurstracks lief sie auf Matthias zu und strahlte ihn herzerweichend an. „Ja, wer bist denn du?“ Doch mehr als „Dada“ brachte die Kleine nicht heraus. Sie schaute sich um und hob ihr Händchen in die Luft. „Dada“, plapperte sie. Matthias nahm sie und setzte sie zu sich herauf auf die Bank. Sie juchzte und machte wieder „Dada.“ „Hörst du das auch?“, fragte er sie. „Ja, das ist schön, nicht wahr? Das ist Musik.“ Ich spielte mit meiner Schleife. Unvorsichtig und neugierig saß ich neben ihm. Fasziniert, was er und rund um mich war. Ja, ich hörte. Ja, ich spürte. Ich vertraute und hatte Entdeckungslust. Wie wunderbar. Ich versuchte im Takt mit den Beinchen zu baumeln, klatschte und lachte, wenn mir etwas ganz besonders gefiel. Jeder Klang machte in mir sein eigenes Universum auf. Ich freute mich daran, die Farben in mir Regenbogen und Gefühl werden zu lassen. Ich ließ mich tragen von dem, das wie ein unsichtbarer Vogel durch die Luft schwebte, dem ich nicht nachlaufen oder den ich nicht fangen musste und von dem ich nicht wusste, dass er vom Aussterben bedroht war.
„I müssert euch jetzt abkassieren.“ Ungelegener konnte die Dralle mit der drallen Brieftasche gar nicht kommen. Ehe ich mich versah, lagen die Münzen auf dem Tisch. Mit einem Mal wurde ich ungehalten und patschte mit meiner flachen Hand auf eine Fliege, die sich frech vor mich hingesetzt hatte. Als ich nachschaute klebte sie plattgedrückt auf dem Grün und etwas Gelbes rann aus ihr heraus. Matthias rügte mich und stierte entgeistert auf das zerquetschte Insekt. Er setzte mich ab und schickte mich zurück zu meiner Mama. Die Musik hatte aufgehört.
Ich nahm die Sonnenbrille ab. Er wandte sich halb nachdenklich, halb flehentlich nach dem Fenster, aus dem das Klavier geklungen hatte: „Wir brauchen Musik. Das Gespenst ist die lautlose Welt….“ „Antoine de Saint-Exupéry?“ „Ingeborg Bachmann.“
Ich klingelte. Ungeduldig und wütend. Der Alte mit der süßlichen Stimme öffnete. „Sehr gut, dass Sie gleich gekommen sind.“ Er führte mich in sein Reich, das so aussah, als würde er Scheherazade vögeln. Er zeigte mir Matthias, der, nur die Unterhose an, auf dem Kanapee saß, Noten auf ein Blatt Papier schrieb und vor sich hin summte. „Sehen sie selbst“, äußerte er bedauernd. „Es steht nicht gut um Ihren Bruder.“ „Oh Schwesterherz!“, freute er sich, als er mich bemerkte. Ich half ihm, seine Sachen zusammen zu suchen und beim Anziehen. „Komm, wir gehen!“, sagte ich bestimmt. „Aber, meine Noten…“ „Kein Aber!“, wurde ich streng. „Aber Sie können ihn doch nicht einfach so mitnehmen.“ „Kein Aber!“, funkelte ich den Arzt an. „Aber Sie wissen ihn doch nicht zu behandeln!“, jammerte er uns, kaum dass wir bei der Tür draußen waren hinterher. Wenn der Gute wüsste, dass die Verwandtschaftserfindung einen Inzest heraufbeschworen hatte. Als ich mich am Treppenabsatz umdrehte, glaubte ich zu bemerken, wie der Alte Matthias nachblickte und dabei genüsslich an seiner Zunge lutschte. Ich trieb ihn vor mir die Treppe hinunter und dankte ihm insgeheim für die erfundene Schwester.
(aus: Die Fibel. Berlin, 2013)
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