Wir alle wissen, was wir oft, wenn wir nocht nicht selbst gefahren sind, über Zugreisen lesen. Übles. Zumeist transportieren Leserbriefseiten die kompetente Stimme des Sonntagsreisenden. Und wir beginnen uns alles Mögliche auszumalen. Kaum dass es sich erstmals in Bewegung gesetzt, dieses metallische Monstrum, ward bereits der Teufel vermutet. Die Diagnose war eindeutig: Ob seiner Schnelligkeit könnte man den Verstand verlieren. Heute will man der Zugreise eine ihrer wertvollsten Eigenschaften stehlen: Zeit. Und damit etwas, wofür sie prädestiniert ist: Begegnungen. Und Geschichten. Eine Schauspielerin in einem mit feinem Lederinterieur bestückten Abteil, die das schwache Lächeln ihrer schmalen Lippen auf eine Autogrammanfrage gekonnt einzufrieren wusste. Die ehemalige Physiotherapeutin eines wohlgeschätzten Meisters aus der goldenen Ära deutschsprachiger Filmkomödie, deren Augen beim Erzählen von Münchhausen zu blitzen begannen – ein weiteres Mal später, als sie bemerkte, dass ich ihren Arbeitgeber – Gott hab ihn selig – noch kenne. Eine alte Dame, die sich gegenüber schüchtern an das Fenster setzte. “Sie schauen aus wie mein Enkel.” Irgendwo zwischen Klagenfurt und Villach hatte sie – von meiner Vorliebe für Musik erfahren – meine Hand genommen und darauf bestanden, dass ich ihre Schallplattensammlung bekommen solle. “Ich weiß ja nicht wohin damit.” Meine alte Biologielehrerin am Gang, irgendwo am Semmering, die mir immer noch vorhielt, meine Spezialarbeit über das beliebte Haustier zu ausführlich gemacht zu haben. Ein Eishockeyspieler meiner Lieblingsmannschaft, der zu jenem Zeitpunkt zum Unmut der meisten ein Tabu gebrochen und fremdgegangen war. Spitzbübisch saß er drin – wie ein Kornspitz – und schaute sich auf seinem Mobilgerät “die geilsten NHL-Tore” an. Das alles wäre mir entgangen. Genauso Ariel Sharon. An einem graufeuchten Novembermorgen besprengt von Schneeregenniesel. Mit einer Selbstverständlichkeit drängelte er sich vor und hievte sich und sein Gepäckchen vom Meidlinger Bahnsteig in den Intercity. Ein “Guten Morgen” prallte auf seinen Rücken und ging fast taumelnd k.o. Als Abteilkenner, schmiegte er sich in den mittleren Sitz. Seine ausgestreckten Beine genossen sichtlich den Erfolg seiner Strategie. Mich fror, als ich die Fädchen an die Scheiben fallen und die dünnen, schwarzen, bis kurz unter die Knöchel reichenden Söckchen der Abteilsmajestät sah. Ariel Sharon. Naja. Er hatte auch etwas von Belmondo, der ein paar Bierchen zuviel hatte. Was man sich alles ausmalt. Hinter der überdimensionalen Zeitung mit den verschämt kleinen Schriftzeichen schimmerte sein Schlohweißes Haar und sein leicht gebräunter Teint hervor. Vielleicht spricht er Ungarisch oder Rumänisch. Womöglich hat er lange auf seinen Anschluss gewartet. Müde schaut er nicht aus. Kurz vor sieben ging’s ab. Belmondo und Ungarisch? Unwahrscheinlich, wenn auch reizvoll. Wenig Gepäck ist verräterisch. Noch dazu wenn es elegant ist. Ein Junggeselle, vielleicht frisch geschieden, der irgendwo eine Pension aufsucht – für wenige Euros pro Nacht. Wo niemand viele Fragen stellt. Mit einer Dusche am Gang, in der es leicht säuerlich riecht. Mit knarrenden Holzdielen und einer Bettdecke, die eine ungewaschene Tischdecke aus einem Vorstadtcafé sein könnte. “Die Fahrkarten bitte.” Wir bekamen es doch noch zu hören. Es riss Sharon aus dem Dösen, seine großen Ohren aus dem vermutlich blaugefärbten Glatt der Lehnen. Ein prüfender Blick und der Schaffner bemerkte: “Wissen’s eh, wenn’s die Karte beim Automaten kaufen, isses billiger.” Sharon richtete sich auf blinzelte etwas verschlafen und durch seine verschmitzt verzogenen Lippen kam: “Achmei, i waß eh. Oba, Herr Schaffner, es is jo gach amol so – i red halt so gern mit dem Bahnpersonal. Und den klanen Plausch am Schalter, grod bei so kompetenten jungen Damen, den lass i mir gern de paar Euro mehr kosten.” Und mir kam’s: Ein Schlawiner! Belmondo muss umsteigen. Sharon lacht mich an: “Gell?” Was man sich nicht alles ausmalt. Verdammte Tagesmotten. Noch eine Viertelstunde Zug. Und ich bin da.
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