Auf lebendige und interaktive Weise lädt das Projekt “Vergessene Weihnacht. Sterzls musikalische Reise durch die Vergangenheit” – nach einer Idee des aus Südtirol stammenden Musikers und Germanisten Hannes Mittermaier – auf einen bemerkenswerten Streifzug durch die Jahrhunderte der Weihnacht mit ihren Liedern ein. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Zur Erinnerung an die christlich-europäische Tradition im Wandel der Zeit. Auf der Spur von “Werten und Moralvorstellungen, die in der heutigen Moderne des Massenkonsums leider weitgehend abhanden gekommen sind”, heißt es seitens des Ideators, Arrangeurs und Dramaturgen.
Es geht um die Rückbesinnung zum wahren Sinn der Weihnachtszeit. Allerdings bewusst “gegen den Trend von Mainstream-Musik, um im Gegenzug das Interesse für traditionelle musikalische Stilrichtungen und Elemente wieder in den Vordergrund zu stellen.” So Mittermaier, der die Musik neu arrangiert und die Gitarren selbst eingespielt hat. Eine CD mit diesen Liedern, inklusive erläuterndem Booklet, soll – auch im Musik- und Geschichtsunterricht – einen Zugang zu dieser Tradition vermitteln. Über allem das große Thema: “Weihnachten besitzt als Fest interkulturelle Kraft und kann deshalb in der gegenwärtigen Zerklüftung, in der Zeit des aufkeimenden Nationalismus und der kriegerischen Bedrohungen ein Weg zum Frieden sein.” Hannes Mittermaier im KulturToDate Interview über die Hintergründe des Projekts, das bis zum 28.12.2016 im Innenhof des Sterzinger Rathauses zu erleben ist.
Was ist an der Weihnacht vergessen? Worauf sollte man sich in der Weihnachtszeit wieder besinnen? Hannes Mittermaier: “Die Weihnachtstradition ist fast so alt wie das Christentum selbst. Demzufolge blicken wir, wenn wir Weihnachten feiern, unbewusst auf eine 2000-jährige Tradition zurück beziehungsweise bedienen uns ihrer. Weihnachten ist, wie alle Feste der Christenheit, zuerst ein theologisches Fest. Das heißt, es fußt auf bestimmten theologischen und mythologischen Annahmen. So hat sich die Weihnacht in gut 2000 Jahren entwickelt, so hat sie ihre bunten Facetten und ihre größten Kunstprodukte hervorgebracht. Spätestens seit der Zeit der von der Kirche losgelösten Gesellschaft ist Weihnachten inflationär geworden. Ich glaube, die Weihnacht im 21. Jahrhundert ist keine richtige Weihnacht mehr. Häufig geht es nur mehr um Massenerlebnisse, Konsumprofite und Eigeninteressen. Ich bin mir bewusst, dass man die Weihnacht von vor 500 Jahren nicht mehr in die Gegenwart übertragen könnte – dafür ist unsere Gesellschaft zu aufgeklärt, zu sekulär geworden, zu losgelöst von der Kirche.”
Wie passiert die Auseinandersetzung mit der Weihnacht in diesem interaktiven Projekt? Hannes Mittermaier: “Es ging mir zunächst darum, das Bewusstsein nach dem Stellenwert der Weihnacht zu thematisieren. Sterzls Reise durch die Jahrhunderte ist keine dogmatische Anweisung, wie das Weihnachten von heute aussehen soll. Sterzls Reise ist vielmehr eine Reise zu uns selber: Zur autoreflexiven Auseinandersetzung mit der Frage, was Weihnachten uns – oder mir als Mensch – persönlich bringen kann. Fernab einer zweckrationalisierten und kapitalisierten Weihnacht. Deshalb steht der einzelne Hörer im Mittelpunkt der Geschichte des Sterzl: Er selbst soll sich die Frage stellen, was Weihnachten für ihn bedeutet. Er selbst muss die Antwort für sich finden, worauf er sich in dieser besonderen Zeit im Jahr besinnen sollte.”
Was bedeutet Ihnen Weihnachten? Was ist das Besondere daran? Hannes Mittermaier: “Mich stört das Weihnachten der Gegenwart: Hektik, Hektik, Hektik, Hektik. Die einstige Geburt des Erlösers kulminiert in einer paranoiden Alltagshektik, die jedes Jahr schlimmer wird. Ich ziehe mich deshalb, so weit es geht, an Weihnachten zurück. Es ist für mich das Fest geworden, das uns am meisten Möglichkeiten gibt, gegen den Strom zu schwimmen. Meistens geht der Jahreswechsel, der unmittelbar bevorsteht, mit den Feierlichkeiten einher. Ich besinne mich, ziehe mich mit meinen Lieben zurück, denke über das vergangene Jahr nach und stelle mir neue Aufgaben.”
Wie kam es zu dieser Liedauswahl? Wie erwuchs die Idee? Hannes Mittermaier: “Wie es zur Idee kam, ist, glaube ich, aus dem vorher Gesagten zu entnehmen. Ich will auch keinen Protest von der gegenwärtigen Weihnachtskultur fordern. Ich will nur über ein mögliches, anderes Verständnis der Weihnacht aufmerksam machen. Dies tue ich über die den Menschen seit jeher genuien Formen künstlerischer Betätigung: Musik und Literatur. Deshalb die Verbindung aus vergessenen Weihnachtsliedern – die ebenso vergessen sind wie der theologische Kern der Weihnacht – mit einem Kunstmärchen, das die Reise der fiktiven Figur Sterzl beschreibt, die quer durch die Zeit reist und den ein oder anderen musikalischen Schatz findet. Ich habe mir ca. 150 deutschsprachige und ein paar italienische Weihnachtslieder angesehen, habe nach signifikanten Motiven gesucht und bin fündig geworden. Jedes Lied steht für eine besondere Zeit – beginnend circa im Jahre 1000 mit dem ersten deutschen Weihnachtslied Sei uns willkommen, Herre Christ. Damit aber der historische Ansatz nicht zu groß wird, habe ich mich entschlossen, die musikalische Reise mit einer Eigenkomposition zu beenden. Sie endet im Ersten Weltkrieg mit Voraussicht auf die Zukunft. Gerade da sehe ich den wichtigsten Gegenwartsbezug: Auch heute befinden sich viele Staaten der Erde wieder im Krieg. Auch heute scheinen populistische Tendenzen wieder Einkehr zu finden in unsere Gesellschaft. Gerade hier kann ein so universales Fest wie Weihnachten ein Weg zur Versöhnung und zum Frieden sein.”
Ist der buckelige Pilger das Emblem einer suchenden Gesellschaft? Hannes Mittermaier: “Sterzl ist der Wappenträger meiner Heimatstadt Sterzing. Das verbindet ihn auch mit unserem Märchen. Sterzl wohnt in seinem Wappen – zeitlos – und tritt immer dann heraus, wenn die Menschen vom rechten Glauben abzufallen drohen. Diese mythologische Figur soll, der Sage nach, der Gründer Sterzings sein. Dieser Mythos findet keinen Einfluss in unserem Text. Sterzl ist hier als literarische Figur zu sehen, die analog zur Weihnachtszeit, aus dem Volksmund kommt und auch dort weiterlebt. Gewiss, Sterzl ist ein Suchender. Aber ein Suchender, der keine ideale Gesellschaft verkündet. Mir geht es nicht um Utopie oder andere Formen von Idealen. Sterzl ist ein Zeitkommentator, der mit seinem Rosenkranz und seinem Gehstock nichts machen kann. Doch seine Geschichte soll uns zur eigenen Auseinandersetzung mit der Weihnacht inspirieren. Deshalb ging es mir vor allem darum, Sterzl als Identifikationsfigur zu gestalten. Sein Gesicht bleibt unbekannt. Sein Wirken ist äußerst menschlich und neutral.”
Warum lässt sich mit dem Märchen der Weihnachtszeit besonders gut nähern? Hannes Mittermaier: “Das Märchen ist eine literarische Gattung, die in besonderer Weise mit dem Kriterium der Fiktionalität spielt. Im Märchen muss das Wunderbare, das Nichterklärbare immer die Hauptrolle spielen. Warum kann Sterzl zeitlos in seinem Wappen leben? Warum kann er dort heraustreten? Wie gelangt er an die Schlachtfelder des Dreißigjährigen Krieges? Diese Fragen müssen im Märchen nicht beantwortet werden. Sie können es gar nicht. Dieser Aspekt lässt viel Freiraum für literarische Spielereien und Experimente. In gewisser Weise ist dieses Kunstmärchen (Anm.: auf einen Text des Autors, Journalisten, Musikers und Projekt-Mitorganisators Karl Mittermaier) ein großes Experiment mit der rund 2000 Jahre alten Weihnachtstradition der Christenheit. Wenn ich vorher über den verlorenen mythologisch-theologischen Kern der Weihnacht gesprochen habe, so glaube ich, dass man sich der Weihnacht eben über Mythos nähern muss, um sie gleichnishaft verständlich machen zu können. Diese Paradoxie begleitet uns mit jedweder Form von Glaube.”
Das Projekt wird gemeinsam mit dem Musikverein Tellura X, dem Tourismusverein Sterzing und der Theatergemeinschaft Wipptal umgesetzt.
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